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Der Chefredakteur der Wilhelmshavener Zeitung, Gerd Abeldt, interviewte den Kreisvorsitzenden aus Anlass des Europa-Tages 2020. Lesen Sie hier das Interview .

Jürgen Petersen ist Vorsitzender des Kreisverbandes der Europa-Union Wilhelmshaven. Die Europa-Union versteht sich als Bürgerinitiative, die sich überparteilich für Europa engagiert.

 

WZ: Herr Petersen, heute ist der 9. Mai, der „Europatag“. Warum eigentlich?

 

P: An diesem Tag im Jahre 1950 geschah Historisches. Fünf Jahre vorher, am 8. Mai 1945 war Kriegsende, also Verheerung und Zerstörung allerorten, nicht nur in Deutschland. Und dann, am 9. Mai 1950, hält der französische Außenminister Robert Schumann eine historische Rede. Er spricht von der kühnen Idee, dass sich die ehemaligen Kriegsgegner Deutschland und Frankreich zusammentun und die damals wichtigsten Rohstoffe Kohle und Stahl gemeinsam verwalten sollten. Dies führte zur MONTAN-Union, auf die sich sechs europäische Länder einigten. Schumanns Rede ist die historische Grundlage für den „Europatag“.

 

WZ: Die Idee für eine Europäische Union ist also 70 Jahre alt. Ein Jubiläum. Wie feiern Sie das?

 

P: Nicht nur wir, also unser Verein Europa-Union, feiern, sondern die Bürger der Europäischen Union feiern diesen Tag. Wir hier in Wilhelmshaven luden dazu immer Bürger und Kommunalpolitiker zu einem öffentlichen Empfang ein. Dieses Jahr hatten wir das auch geplant. Unser Oberbürgermeister hatte die Schirmherrschaft  übernommen. Ein EU-Parlamentarier sollte die Festrede halten. Wegen der COVID-19-Pandemie mussten wir die Feier leider absagen.

 

WZ: Von einer Europa-Euphorie ist derzeit wenig zu spüren. Schon bei der Flüchtlingskrise 2015/16 hat sich die EU nicht geschlossen gezeigt. Jetzt, beim Ausbruch der Corona-Krise in Italien und Frankreich, das gleiche Bild. Wenn es ernst wird, denkt also doch jede Nation zuerst an sich. Woran liegt das?

 

P: In der Tat, beim Pandemie-Ausbruch haben die Mitgliedsstaaten erst einmal für sich gehandelt, auch Deutschland. Man begriff die Katastrophe zu spät und musste dann schnell handeln. Nun muss man wissen: Katastrophenschutz ist nicht Sache der EU, sondern der Mitgliedsstaaten. Die EU, also die EU-Kommission, leistet den Mitgliedsländern in humanitären Notsituationen lediglich Unterstützung. So konnte sich „die EU“ auch nicht als geschlossen zeigen. Es ist nicht die EU-Kommission, die hier versagt hat, sondern die Diplomatie der Mitgliedsstaaten.

 

WZ: Sie haben mit mehr als 400 Persönlichkeiten aus der ganzen EU einen Appell unterzeichnet, in dem eine europäische Antwort auf die Corona-Krise gefordert wird. Worum geht es Ihnen dabei im Kern?

 

P: Der Appell geht an alle 27 EU-Regierungen. COVID-19 ist eine gemeinsame Bedrohung. Darauf hätte es eine gemeinsame EU-Antwort geben müssen mit strengen Eindämmungsmaßnahmen und einem EU-weiten Plan zur Wiederankurbelung der Wirtschaft. Es wäre EU-Regierungshandeln notwendig gewesen. Dafür aber ist die EU-Kommission vom Lissabon-Vertrag her unvollständig konzipiert. Ihr fehlen Kompetenzen und Befugnisse, um zum Beispiel der Pandemie zu begegnen. Der Appell ist umfassend: in Zukunft müssen europäische Antworten möglich sein und dafür muss die EU dringend umgestaltet werden.

 

WZ: Sie bedauern, dass der Durchschnitts-Europäer zu wenig über den Aufbau der EU und die Befugnisse innerhalb der Gemeinschaft weiß. Warum wäre das Ihrer Ansicht nach wichtig?

 

P: Ich glaube, die Tatsache, dass die meisten EU-Bürger wenig darüber wissen, überrascht niemanden. Die EU ist eine komplexe staatsrechtliche Konstruktion. Der EU-Vertrag ist so ausgehandelt, dass in der Kommission keinerlei nationalstaatliche Strukturen gedoppelt werden. Es gibt keinen Finanzminister, statt Steuern finanziert sich die EU über Eigenmittel. Sie darf keine Schulden machen und die Verteilung von Geldern geht über „Instrumente“. Entscheiden darf sie über Wirtschaft und Handel, Verkehr, Wissenschaft und Forschung. Auf anderen Gebieten, z.B. der Sozialpolitik bleibt alle Gesetzgebung in nationaler Hand.

Es ist wichtig, dass man die Begriffe und Besonderheiten der EU kennt, um festzustellen, dass die Kommission im Kern sehr gut funktioniert. Andernfalls blendet man die Erfolge der EU aus und schraubt an anderer Stelle die Erwartungen hoch. Enttäuscht, frustriert wendet man sich von der Europäischen Idee ab.

 

WZ: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, bedauern Sie, dass hinter vielen Handlungen, die der EU zugeschrieben werden, letztlich doch die Regierungen der Einzelstaaten stecken?

 

P: Nein, es ist kein grundsätzliches Bedauern. Vieles ist auf regionaler Ebene besser zu entscheiden als von einer zentralen EU-Regierung. Aber sehr vieles, was für Europa zu entscheiden ist, dürfen weder die EU-Kommission noch das EU-Parlament entscheiden. Vielmehr ist der Europäische Rat, die Versammlung der nationalen Regierungschefs, zuständig. Aber, weil nationale Interessen miteinander zu vereinbaren sind,  kommen oft lange keine Entscheidungen zustande. Wird sich dann „Die EU“ nicht einig, wie in der Asylpolitik, lastet dies der EU-Bürger mit Recht „Dieser EU“ an. Nur, wer ist im Einzelfall konkret mit „Diese EU“ gemeint? Mal steht dies für die EU-Kommission, ein andermal für den Europäischen Rat. Schnell ist intuitiv die EU-Kommission als „Missetäter“ ausgemacht und es folgen Enttäuschung und Frust.

 

WZ: Was müsste passieren, damit das Image der EU besser wird?

 

P: Ich glaube, ein Schlüssel dazu liegt in einer sorgfältigeren Sprache bei der Berichterstattung und mehr Hintergrundinformationen dazu. Die wenig bekannten staatskundlichen EU-Begriffe müssen an den EU-Bürger herangebracht, er muss daran gewöhnt werden. Ein weiterer Schlüssel wäre, regelmäßiger über EU-Angelegenheiten zu berichten, auch ohne spektakulären Anlass. Warum nicht wöchentlich eine zusätzliche Zeitungsseite neben „Wilhelmshaven“ oder „Friesland“ mit „Europäischer Union“? Es gäbe genug Inhalt, um eine Seite zu füllen. Weiter wäre es wichtig, sich im Rahmen der Berichterstattung nicht nur auf die innerdeutsche Sichtweise zu beschränken. Mal über die Grenze in andere EU-Staaten schauen!

 

WZ: Es gibt zwei Perspektiven für die EU: „Richtige Union“ mit einer harmonisierten Finanz-, Steuer-, Sozial- und Verteidigungspolitik oder aber die Rückabwicklung. Herr Petersen, wie schätzen Sie die Zukunftschancen für die Gemeinschaft ein?

 

P: Diese Frage hatte schon der Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2017 in seinem Weißbuch behandelt: „Sagt, welches Europa wollt Ihr?“ Und er gab Szenarien vor, wie sich die EU entwickeln könnte: weniger gemeinsam, mehr gemeinsam, wenige Staaten machen mehr, auch Finanz-, Steuer, Sozial- und Verteidigungspolitik. Tatsache ist, dass die Europäische Union des Lissabon-Vertrages eine unvollständige Union ist. Was in Krisen passiert, haben wir ja heute ausführlich behandelt. Und auch die Antwort haben wir: wenn es keine Änderungen am Vertrag gibt, wird der Glaube an die gemeinsame Union mittelfristig unterminiert. Oder wie Jean-Claude Juncker sagte: „Wenn wir Probleme wie die soziale Frage nicht lösen, dann zerfällt die EU.“

 

WZ vom 9.5.2020WZ vom 9.5.2020

WZ-Interview 9.5.2020WZ-Interview 9.5.2020